Irgendwie interessant. Ich hatte mein erstes agiles Projekt 2004. In manchen meiner Blasen ist die "Agil-Sau" schon durch, in anderen mittendrin. Dazu hier mal ein kleiner Beitrag, mit dem ich zum Weiterdenken anregen möchte.
Mittlerweile scheint es allgemein anerkannt zu sein, dass unsere Welt immer komplexer und undurchschaubarer wird. Ebenfalls allgemein akzeptiert wird die Aussage, dass die Veränderungen immer schneller auf uns einprasseln. An allen Stellen hört man das Mantra von steigender Dynamik und Komplexität.
Gerade im organisationalen Kontext erlebt man derzeit als Antwort darauf den Ruf nach mehr Agilität. Zumindest, wenn schon mal etwas mehr über das Thema nachgedacht wurde, also nur der Blick in Zeitschriften....
Im Kern ist Agilität die Fähigkeit zu einer schnellen Anpassungsfähigkeit, eine hohe Lebendigkeit. Insofern ist Agilität schon eine mögliche Antwort auf die aktuellen Herausforderungen.
Die Herausforderung beginnt, wenn man Agilität einführen möchte. In den meisten Fällen werden Regeln und Prozesse eingeführt, die sich im Rahmen von agilen Arbeitsweisen als nützlich herausgestellt haben. Dabei kommt es oft zu dem Phänomen des Cargo-Kults. Cargo-Kult ist ein Phänomen, das Richard Feynman (Feynman, 1974) als Metapher benutzt hat. Dabei werden zwar alle formalen Regeln und Praktiken befolgt, jedoch die eigentliche Essenz, das Wesentliche nicht berücksichtigt und erfasst. Feynman berichtete von einer Insel, die im zweiten Weltkrieg als Stützpunkt für Logistik genutzt wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg bauten die ursprünglichen Bewohner der Insel einen Flughafen nach und folgten den Praktiken, die sie beobachtet hatten. Aber es landete kein Flugzeug mehr.
Agilität ist also nur eine Antwort, wenn wir sie nicht als leere Prozesse und Regeln verwenden, sondern wenn wir sie wirklich in unsere organisationale und persönliche DNS integrieren. Agilität bedeutet ja im Kern die Fähigkeit zum Umgang mit hoher Dynamik. Daher ist der Ruf nach Agilität sowohl richtig, als auch falsch.
Hier mal ein erstes Schaubild, um sich dem Thema weiter zu nähern:
Im äußeren Ring stehen die Frameworks. Das könnte beispielsweise Scrum sein. Die Frameworks, die zu grossen Teilen Regeln und Prozesse mitbringen, kombinieren verschiedene Methoden und Tools. Ein Taskboard mit Spalten zur Visualisierung von Arbeit, Planning Poker für Aufwandsschätzung und ein Stand-Up mit strukturierten Fragen sind Beispiele für Methoden und Tools. Ein Framework kombinierte die Methoden und Tools und bringt meistens auch irgendeine Art von Prozess mit sich. Und damit haben wir dann auch Rollen und Regeln.
Die Methoden und Tools sind dafür da, die agilen Prinzipien zu operationalisieren. Zumindest können diese Werkzeuge grundsätzlich dafür genutzt werden, sofern man sie eben mit diesen Prinzipien und darüber sogar mit den Werten verbindet. Die Prinzipien sind EINE Variante die agilen Werte etwas genauer zu fassen und zu beschreiben.
Die Werte werden meistens mehr oder weniger dem agilen Manifest entnommen. Dabei sollte man sich aber noch einmal sehr bewusst machen, wie das entstanden ist. Es haben sich einmal siebzehn Personen zusammengesetzt und sich darüber ausgetauscht, was sie für wichtige Werte halten. Dabei haben sie auch Spannungsfelder in Werten identifiziert und diese in eine Gewichtung gebracht. Das ist also EINE Interpretation von „Agil“. Genau hier setzt das Fundament davon an, was „man“ unter agil versteht.
Und in einem System, wie beispielsweise einer Organisation, empfehle ich auch dringend, sich wirklich die Grundlagenarbeit zu machen und zu klären, was in diesem Rahmen unter agil verstanden wird, welche Werte damit verbunden sind, welche Werte vielleicht auch anders gesehen werden als im agilen Manifest und dann auf der Basis wiederum sich Prinzipien zu geben, Tools und Methoden auszuwählen und ein Framework zu bauen.
Ich weiß, dass hier schnell das Missverständnis entstehen kann, dass ich empfehle, jedes Mal das Rad neu zu erfinden, aber das ist nicht das, was ich meine. Es wäre ja auch fahrlässig nicht auf Bewährtes zurück zu greifen. Mir geht es aber um die intensive Arbeit des Abgleichs von dem, was sich wo anders bewährt hat zu dem, was in der konkreten Organisation, im konkreten Projekt wirklich gebraucht wird. Und dabei eben eine kritisch-konstruktive Reflexion durchzuführen, auf deren Basis auch langfristig tragfähige und wirksame Entscheidungen herauskommen. Ja, das dauert zu Beginn länger, aber auf lange Sicht zahlt sich das aus, denn agil einführen ist nicht nur eine Struktur, also Regeln, Rollen und Prozesse einführen, sondern vor allem auch eine wertebasierte Haltung.
Zu aller erst möchte ich einmal in Frage stellen, ob eine Einführung der Agilität überhaupt abgeschlossen sein kann. Was wären die Kriterien dafür, dass man agil ist?
Wenn Sie meiner These zu Beginn des Artikels folgen, dann bedeutet Agilität ja die Anpassungsfähigkeit an die sich verändernde Umwelt sicher zu stellen. Insofern ist die Frage, sind wir agil ja irrwitzig. Denn erst in der Rückschau können wir beurteilen, ob eine Anpassung an die Umwelt gelungen ist oder nicht. Und darüber hinaus ist das langfristig zu betrachten. Da man niemals vorher wirklich sicher sein kann, dass eine Veränderung eine erfolgreiche Anpassung an die Umwelt ist, geht es hier um schnelles Feedback. Dann war man zwar zeitweise nicht gut angepasst, konnte aber schnell nachsteuern. Und wenn das gelungen ist, dann hatte man die Fähigkeit zur Anpassung. Daher ist die passendere Frage waren wir agil?
Oder vielleicht die Akzeptanz der Unsicherheit und die Frage werden wir agil gewesen sein? Und dann wäre die Antwort keine Wort oder Satz sondern Handlungen, ein in die Frage hineinleben, individuell und als Organisation. Und ja, das klingt erst einmal sehr ungewöhnlich und vielleicht sogar spirituell. Ich möchte das daher auch mit etwas mehr Bodenhaftung belegen, bzw. konzeptionell etwas konkretisieren.
Ich verwende das Quadrantenmodell nach Ken Wilber als eine Grundlage, um wesentliche Fokussierungsfelder auf der Lern- und Entwicklungsreise in die Agilität aufzuzeigen. Ich erweitere es ein wenig um die klassische Darstellung, um den weiteren Kontext mit in dem Schaubild darzustellen.
Das Modell unterscheidet in subjektive und objektive Aspekte. Dabei sind Elemente in der objektiven Welt eher sicht- und messbar. Die subjektiven Elemente gehören eher zum „Mindset“ oder zur Haltung der Person, bzw. gehören diese zur Kultur einer Organisation. Darüber hinaus unterscheidet das Modell noch in individuell, also nur die Einzelperson betreffend oder Systemisch, also die Einbettung in einen Kontext. Ohne jetzt auf Feinheiten des Modells einzugehen ergeben sich sechs wesentliche Fokussierungsfelder:
Wie fördern wir den individuellen, inneren Veränderungs- und Entwicklungspfad, wie schaffen wir die erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass ein Mitarbeiter innerlich eine aktivere, offenere, auf Austausch ausgelegte Haltung entwickelt?
Wie fördern wir die sichtbaren Fähigkeiten jedes Mitarbeiters? Wie fördern wir Kommunikationsfähigkeit und beispielsweise Visualisierungskompetenz als ein Schlüsselelement zu effektiver Kommunikation? Wie stärken wir die jeweilige Methodenkompetenz in Abhängigkeit von Interessen der Person, Bedarf der Organisation und den Rollen, die Menschen übernehmen?
Wie fördern wir gemeinsame, teamorientierte Werte? Wie fördern wir tiefes gemeinsames Verständnis und konstruktive (teils unbewusste) Interaktionsmuster? Wie erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit, dass die Kultur und das co-kreative Ergebnis aller Beteiligten sich ideal entwickeln?
Wie stellen wir klare Rollen, Strukturen und Prozesse sicher? Wie stellen wir den agilen Umgang mit diesen Strukturelementen sicher? Wie finden und vereinbaren wir die sinnvollsten Spielregeln und was ist die optimale technische Infrastruktur als Unterstützer und Befähiger der Organisation?
Welche Kultur begegnet uns im übergeordneten Kontext, sei es der Markt oder die Organisation, aber auch die Partner? Wie schaffen wir da eine gute Kopplung und Akzeptanz für eine agile Vorgehensweise? Und wie stellen wir auch an dieser Grenze sicher, dass die Menschen möglichst Angstfrei lernen und Wert produzieren können?
Mit welchen strukturellen Rahmenbedingungen sind wir im Kontext konfrontiert? Welche Brüche gibt es gegenüber dem übergeordneten Markt und wie stellen wir da eine Kopplung und Sicherheit dar? Wie bemerken unsere Kunden, dass wir agil sind, also optimal auf unser Umfeld ausgerichtet....
Auch wenn die sechs Fokussierungsfelder schon ziemlich umfangreich aussehen, finden sich noch viele hier nicht erwähnte Feinheiten, die es zu beachten gilt. Wo ergeben sich beispielsweise widersprüchliche Steuerungsimpulse, mehr Agilität einerseits, aber starre Zielvorgaben andererseits. Oder auch oft zu finden, auf der einen Seite Teamaufgaben und auf der andere Seite entgeldrelevante Individualziele.
Natürlich kann man sich auf den rechten unteren Quadranten fokussieren, ein Framework nehmen und das einführen. Und wenn die eigentlichen Treiber auch genau Probleme in dem Fokussierungsfeld sind, wie beispielsweise ineffiziente Prozese, dann ist das sogar häufig eine wesentliche Verbesserung gegenüber Vorher. Aber dann schon von agil zu sprechen ist aus meiner Sicht deutlich zu kurz gesprungen.
Die Lernaufgaben, Veränderungs- und Entwicklungsschritte, die jeder Einzelne gehen muss, dauern auch einfach etwas Zeit. Ebenso wie die Veränderung der Kultur und die immer wieder zu reflektierende Kopplung an den Markt. Aber nur, wenn nachhaltig alle Fokussierungsfelder berücksichtigt werden und sowohl zwischen den Fokussierungsfeldern, als auch innerhalb der Fokussierungsfelder keine oder nur wenig Widersprüche auftreten, wird eine Organisation wirklich langfristig agil sein und somit auch in komplexer Veränderungsdynamik des Umfelds gedeihen und wachsen. Und das vielleicht sogar ganz ohne Scrum oder Kanban, denn es geht um die optimale Passung zur Umwelt.
Der aufwändigere Weg, auch unbewusste Elemente in den Blick zu nehmen, den Raum zu schaffen für tiefen Dialog und Austausch, das Aushalten von Widersprüchen und Unsicherheiten, das Sich-Öffnen für das, was kommen mag und dann mit Hirn und Herz zu handeln, wird langfristig eine gesunde und robuste Organisation schaffen, mit Menschen, die wirklich ihren Platz ausfüllen, sich einbringen und somit auch gesund und robust, mit Freude und Erfüllung wirken können.
Übrigens, das könnte für Dich auch interessant sein.