Über den sich entwickelnden moralischen Zeigefinger

Über den sich entwickelnden moralischen Zeigefinger

Heiko Veit
von Heiko Veit

Moral, welche ein spannendes Konstrukt. Woher wissen wir, was wir tun sollten. 

Mal abgesehen von der inhaltlichen Beantwortung der Frage ist für mich auch interessant, dass sich unser moralisches Urteilsvermögen entwickelt. Lawrence Kohlberg hat dazu geforscht und sechs verschiedene Stufen von Moral herausgearbeitet. Die Namen der Stufen unterscheiden sich leicht, je nachdem in welche Quellen man schaut, also nicht wundern, wenn Du das Modell mit anderen Begriffen kennst. ;-)

  1. Stufe: Präkonventionelle Moral: Orientierung an Strafe und Gehorsam: "Was droht mir?"
  2. Stufe: Präkonventionelle Moral: Kosten-Nutzen-Prinzip: "Was bringt mir das?"
  3. Stufe: Konventionelle Moral: Erwartung und Beziehung: "Was wird von mir erwartet?"
  4. Stufe: Konventionelle Moral: Gesetz und Ordnung: "Was sagt das Gesetz dazu?"
  5. Stufe: Postkonventionelle Moral: Sozialvertrag und individuelle Rechte: "Was ist das Beste für die meisten Menschen?"
  6. Stufe: Postkonventionelle Moral: Universelle ethische Prinzipien: "Was ist moralisch universell richtig, unabhängig von Gesetzen und Meinungen?"
  7. Stufe: Kohlberg vermutete später die Existenz einer 7. Stufe deren Begründungen auf einer transzendentalen Ebene basieren. Unabhängig von anderen Entwicklungsmodellen, die diese Vermutung untermauern könnten, gibt es dazu keine verlässliche Datenbasis.

Eine Geschichte zur Illustration: Das Heinz-Dilemma

Das Heinz Dilemma ist relativ weit verbreitet, wenn es um moralische Diskussionen geht. Solltest Du das in irgendeinem Kontext als Übungsbeispiel anwenden, sag direkt dazu, dass es keine weiteren Optionen gibt, mit dem Dilemma umzugehen, also kein Fund-Raising oder onstige Dinge. Es geht ja nicht darum, eine gute Lösung zu finden, sondern in einem eng gesteckten Rahmen eine moralische Entscheidung zu treffen.

Eine Frau in Europa war sehr krank und lag im Sterben. Es gab zwar ein Medikament, von dem ihre Ärztin überzeugt war, dass es ihr helfen würde. Glücklicherweise hatte ein Apotheker aus derselben Stadt den vielversprechenden Wirkstoff erst vor einigen Wochen entdeckt. Allerdings gab es da ein kleines Problem.

Der Wirkstoff des Medikaments, Radium, war sehr teuer und der Apotheker ließ sich die Herstellung auch gut bezahlen: Während er 200 Euro für 1 Gramm Radium zahlte, verkaufte er ein 0,1 Gramm seines Medikaments für 2.000 Euro. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, klapperte völlig verzweifelt all seine Freunde, Verwandte und Nachbarn ab, um sich Geld für die Radium-Therapie seiner Frau zu leihen. Doch Heinz kannte nicht viele wohlhabende Menschen und schlussendlich konnte er bloß 1.000 Euro zusammentrommeln. Früh am nächsten Tag ging er zu dem Apotheker und erklärte ihm, dass seine Frau im Sterben lag und er all seine Hoffnung in das neue Medikament setzte. Doch als Heinz dem Apotheker erklärte, dass er nur die Hälfte des Preises bezahlen konnte, wandte sich der Apotheker ab und sagte: „Nein. Ich habe das Medikament entdeckt und ich werde damit Geld verdienen.“ Selbst als Heinz ihm versprach, dass er es ihm später zurückzahlen würde, blieb der Apotheker standhaft, sodass Heinz mit leeren Händen Nachhause ging.

Als Heinz abends seine todkranke Frau pflegte, wuchs die Verzweiflung in ihm. Heinz war eigentlich ein rechtschaffener Mann, der sich stets um ein friedliches Zusammenleben mit seinen Mitmenschen bemühte. Doch die Ausweglosigkeit trieb Heinz in eine Sackgasse und so entschloss sich Heinz noch in derselben Nacht bei dem Apotheker einzubrechen, um das Medikament zu stehlen.

Was denkst du? Sollte Heinz das Medikament aus dem Labor des Apothekers stehlen? Wie begründest du deine Antwort?

Nimm Dir einen kurzen Moment Zeit und idealerweise schreibst Du Dir die Antwort auf.

Begründungen auf unterschiedlichen Stufen

Wichtig ist, dass es auf jeder Stufe eine Ja und eine Nein - Antwort gibt. Wie bei den meisten Entwicklungsmodellen sind die Stufen strukturell und nicht inhaltlich definiert.

Stufe  Heinz sollte das Medikament stehlen, weil...  Heinz sollte das Medikament nicht stehlen, weil... 
1 Das Medikament ist nur 200 Euro wert und nicht 2.000 Euro. Heinz hätte nichts anderes aus dem Labor gestohlen und hätte sogar für das Medikament bezahlt. Heinz müsste ins Gefängnis und somit wäre er ein schlechter Mensch.
2 Heinz wäre glücklich, wenn er seine Frau retten könnte, selbst wenn er dafür ins Gefängnis müsste.
Gefängnis ist ein beschissener Ort und die Haftstrafe würde Heinz mehr belasten als der Tod seiner Frau.
3 Die Ehefrau erwartet von Heinz, dass er es stiehlt und er möchte ein guter Ehemann sein. Stehlen ist schlecht und Heinz ist kein Verbrecher. Er hat den legalen Weg vollständig ausgeschöpft – er trägt also keine Schuld.
4 Seine Frau würde davon profitieren, aber Heinz sollte trotzdem für seine Straftat büßen und ins Gefängnis gehen. Außerdem muss er dem Apotheker das Geld zurückzahlen. Verbrecher dürfen nicht einfach frei herumlaufen.
Stehlen ist gegen das Gesetz.
5 Leben steht immer über dem Gesetz.
Der Apotheker hat das Recht für seine Arbeit entlohnt zu werden.
6 Ein Menschenleben hat mehr Wert als das Eigentumsrecht einer anderen Person. Andere Personen könnten das Medikament genauso dringend benötigen und ihr Leben hat denselben Wert wie das der Frau.
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Und Du so?

Könntest Du Deine eigene Aussage einer dieser Stufen zuordnen? Wie lang ist Dein moralischer Zeigefinger? ;-)

Und ich hoffe, Du nimmst ein paar Anregungen aus diesem Beitrag mit und sinnierst ein wenig über Deine eigenen moralischen Bezüge. 

Im Sinne der integralen Theorie könnte man die moralische Entwicklung als eine eigenständige Entwicklungslinie sehen. Im Sinne von Bewusstseinsentwicklung wäre auch das ein mögliches Feld, in dem die Art und Weise der Bedeutungsgebung besonders zum Tragen kommt. Gerade bei Moral ist es spannend, weil wir da ja besonders viele Bezüge zu unseren Kontexten haben, die unter Umständen ganz andere moralische Perspektiven vertreten, sowohl strukturell als auch inhaltlich.


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Heiko Veit
Heiko Veit
Hier schreibe, denke und drücke ich mich aus. Und zwar, ohne mir irgendeine Perspektive zu verbieten oder einen besonderen Fokus zu verfolgen. Ich hoffe, Du findest etwas für Dich Interessantes! Mehr über mich findest Du auf Über uns. Danke fürs Lesen und Herzensgrüße an Dich.
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