Wenn man sich mit dem vertikalen Entwicklungsansatz (z.B. durch STAGES) befasst, ergibt sich oft eine Begeisterung von der Klarheit der sich daraus ergebenden Erklärungen. Konflikte, Gruppenphänomene, gesellschaftliche Phänomene, Verhaltensweisen, all das scheint auf einmal erkennbar. Dadurch schleicht sich leider auch sehr oft der Irrglaube ein, eine spätere Stufe sei besser als eine frühere.
Vertikale Entwicklungsmodelle werden oft in einer viel zu kurz greifenden, oberflächlichen und sogar schädlichen Art und Weise angewandt. Das hat nichts mit Boshaftigkeit zu tun, es ist -lustigerweise- eigentlich durch das Modell selbst ganz natürlich zu begreifen. Denn jeder Mensch interpretiert Erfahrungen und natürlich auch Modelle auf Basis des eigenen Seins.
Nochmal ganz explizit: Das gilt für alle Modelle, für alles, was wir wahrnehmen und mit Bedeutung versehen, aber gerade im Bereich von Entwicklungsmodellen haben wir da eine besondere Herausforderung. Beim Lesen von Stufenbeschreibungen bilden sich automatisch innere Bilder, wie es wohl wäre, auf dieser Stufe zu sein und das entsprechend mit der eigenen Erfahrung oder Vorstellung abzugleichen. Ohne ein sehr stringentes Training in einem Entwicklungsmodell wie beispielsweise STAGES, welches insbesondere die Konfrontation mit den Erfahrungen anderer Menschen von bestimmten Stufen beinhaltet und auch die Reibung und Irritation durch und mit einem entsprechenden Trainer, bleibt es dadurch bei einer sehr individuellen "Übersetzung" oder Interpretation des Modells.
Darüber hinaus kann man einen Menschen eben nicht nur auf seine Entwicklungsstufe reduzieren. Wenn man die für diesen Zweck ganz taugliche integrale Meta-Theorie als Referenz verwendet, müssen schon fünf Metaperspektiven parallel genutzt und gehalten werden, um ein halbwegs umfassendes Bild zu erhalten. Man könnte jetzt sogar noch eine Meta-Theorie verwenden, wie beispielsweise die Theory of Process, und so noch eine ganz andere Breite hineinbekommen. Und bei Verwendung eines anderen Detailmodells, wie beispielsweise die BigFive entsteht andere Tiefenschärfe. Bei Verwendung systemischer Kontextbezüge wird es nochmal ganz anders komplex.
Entwicklungsmodelle sind absolut hilfreich bei der Selbsterkundung und könnten auch in der professionellen Begleitung von Menschen dazu beitragen, dass wir mit uns selbst und anderen weitaus liebevoller, klarer und realistischer umgehen.
Unglücklicherweise sind Entwicklungsmodelle auch geeignet, zu etikettieren, den eigenen Selbstwert auf Kosten anderer zu stützen oder ideologisch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe sicherzustellen. Gerade bei nicht ausreichendem Verständnis des Modells, einer eher früheren Entwicklungsstufe oder spezifischen Schattenthemen, also eigenen blinden Flecken oder Entwicklungsdysbalancen, die man selbst nicht bewusst wahrnimmt.
Jeder von uns ist ein einzigartiges Individuum, ein „So-Geworden“, ein „So-Seiendes“ und in dem Moment des Kontaktes mit einem anderen Menschen, ein „Sich-in-diesem-Augenblick-so-Zeigendes“, ein „So-Gesehenes“, quasi ein kleines Aufblitzen des „Werdens-Vergehens-Seins-Flusses“, von einem „Beobachter-Beobachtetes“.
Wir sind Teil des Lebens und somit deutlich weniger statisch, als wir uns manchmal erleben oder glauben zu sein. Wir haben eine Herkunft, einen Weg hinter uns und einen Weg vor uns und in jedem Augenblick wirkt der Kontext auf uns ein.
Und das gilt eben für uns selbst, aber auch für unser Gegenüber. Das formt jede Begegnung. Alles, was ich einer solchen Situationen mit den fünf Sinnen (und darüber hinaus) wahrnehme, ...ist auch eine Wahrgebung.
Ob ich mehr von mir oder mehr von dem Anderen wahrnehme, ob es einen echten Kontakt und Austausch gibt..., und was daraus folgen mag..., woher wollen wir das wissen!? Dennoch gilt es, zumindest aus meiner Sicht, in diesem ewigen Fluss des Lebens immer auch eine Position zu beziehen. Wohlwissend, dass auch diese Position eigentlich im Fluss ist, unpassend sein oder werden mag und doch anerkennend, dass eine Position notwendig ist, um einen Impuls wahrzunehmen, zu verarbeiten und darauf zu antworten.
Wenn wir mit dieser Idee erneut auf das Thema vertikaler Entwicklung schauen, ist die Einstufung einer Person eine deutlich komplexere Angelegenheit geworden. In seriösen vertikalen Entwicklungsmodellen arbeiten wir mit projektiven Verfahren. Ein Mensch teilt also etwas von sich heraus mit, beispielsweise in einem Satzergänzungstext oder in einem strukturierten Interview. Die Auswertung dieses Materials ist aufwendig und benötigt einen ausgebildeten Scorer, der ein Training von ca. 800 bis 1.000h durchlaufen hat und ein aufwendiges Interrating-Testing bestanden hat. Bei STAGES muss dazu noch laufend die Qualifikation erneuert werden. Dies dient unter anderem die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen etwas zu relativieren und sich sicher in der Perspektive des Modells zu bewegen. Das unterstützt, die eigenen Annahmen und Erfahrungen möglichst wenig in den Auswertungsprozess mit einzubringen, beziehungsweise die eigenen Annahmen und Erfahrungen im Einklang mit dem Modell verwenden zu können. Ansonsten wird eine Einschätzung eher zu einer Selbstaussage des Einschätzenden als zu einer modellbasiert-objektivierten Rückmeldung.
Damit ist es dann möglich, zumindest mit einiger Genauigkeit, ein „Center of Gravity“, einen ungefähren Bewusstseinsschwerpunkt einzuschätzen, von dem aus eine Person auf die Welt und sich selbst schaut.
Bei STAGES gibt es darüber hinaus ein Verfahren, die Bewusstheit im Moment zu erfassen. Das ist ebenfalls ein aufwendiger Lernpfad, mit dem dann erkannt werden kann, mit welcher Perspektive eine Person in diesem Augenblick sich zeigt. Das ist für Coaching besonders hilfreich, dient aber eben nicht der Bestimmung des Schwerpunkts des Bewusstseins, sondern der praktischen Arbeit mit den Themen, die gerade anstehen.
Jetzt gilt es nicht zu vergessen, dass die Basis für diese Einschätzung immer noch ein Modell ist und man sich so einer mehr oder weniger qualitativ hochwertigen Abstraktion des Lebens zuwendet. Jedes Modell abstrahiert die Entwicklung eines Menschen anders und beschreibt daher auch Stufen, Phänomene, Erfahrungen und Ausdruck des Menschen anders. Je tiefer man in die einzelnen Modelle eintaucht und diese genauer lernt, so besser sieht man sowohl ähnliche Muster, aber eben auch die Spezifika und Grenzen bestimmter Modelle. Dies gelingt aber eben erst, wenn man in verschiedenen Modellen, die einen ähnlichen Blickwinkel betrachten, tief eingestiegen ist. Das senkt die Gefahr der Über-Projektion eines Modells auf die Einzigartigkeit des Seins, kostet jedoch oft den Preis der vermeintlichen Sicherheit. Mal abgesehen davon, dass ein Entwicklungsmodell nicht reicht, die Vollständigkeit einer Person zu erfassen. Es ist mehr eine bestimmte Linse, die wir verwenden, um bestimmte Nuancen genauer erkennen zu können.
Ich halte es sowohl aus eigenem Blickwinkel, aber auch aus den Erfahrungen von Klienten für äußerst wertvoll, eine objektivierte Verortung in mindestens einem Modell zu erhalten. Idealerweise erfolgt dies mit einem Auswertungsgespräch, um sowohl die Rückmeldung durch das Modell richtig zu verstehen als auch konkrete Anregungen für die eigene Entwicklung oder Entfaltung zu erhalten. Dabei ist das Stufenergebnis häufiger weniger interessant als die angrenzenden Rückmeldungen.
Daher ist es schon empfehlenswert, sich vorab etwas damit zu beschäftigen, welches Modell man für eine objektivierte Entwicklungseinschätzung verwenden möchte. Dabei geht es weniger darum, vorab das ganze Modell zu lernen, sondern eher zu schauen, ob einen das Modell intuitiv anspricht, auftauchende Fragen geklärt werden können, und ob man sich aus diesem Modell Anregungen für das eigene Leben erhofft. Darüber hinaus ist es gut zu wissen, ob nur eine Stufe zurückgemeldet wird, eine Stufenverteilung, welche Aussagen über Robustheit von Stufen und welche Entwicklungsanregungen gegeben werden. Wobei Entwicklungsanregungen eben nicht nur „hin zu späterer Stufe“ adressieren sollten, sondern auch basierend auf der Auswertung Hinweise zur Ausbreitung auf verschiedenen Stufen und eventuell nützlichen Dekonstruktionen von einschränkenden Stufenmerkmalen geben sollten. Ebenso ist die Frage relevant, mit wem man die Auswertung nachbespricht und ob auch gegebenfalls eine längere Begleitung möglich ist.
Das Stufenergebnis ist dann insofern interessant, weil es eine Art „Orientierung bietenden Ausgangspunkt“ im Fluss des Lebens bedeuten kann. Damit sind Relationen leichter zu sehen. Beispielsweise, von wo aus ich das Modell verstehe und welche Stufen eben eher auf meiner Vorstellung basieren. Oder wo ich nicht sehen konnte, auf welcher Stufe ich bin, weil ich durch andere Modelle oder Menschen eben ein anderes Bild von einer bestimmten Stufe im Kopf hatte.
Ich habe bei meinen Klienten schon so manche Überraschung und tatsächlich so etwas wie eine „Gesundung“ erlebt, denn Aspekte des eigenen Erlebens, die oft als krank oder frühkindliche Probleme gedeutet wurden, sind vielleicht doch eher Entwicklungsthemen. Gerade STAGES bietet da aus meiner Sicht die bei ausreichend tiefer Kenntnis ein unglaubliches Potential der Unterscheidungskraft. Denn wie oft wird ein Entwicklungsthema auf Grund der sich wiederholenden Muster als Schattenthema einer darunterliegenden Schicht diagnostiziert und damit einfach fehlbehandelt. Unter Umständen wird damit sogar mehr Schaden angerichtet.
Und ebenso habe ich auch Ent-Täuschung und manchmal sogar Kränkung erlebt, da die eigene „erdachte“ oder ersehnte Entwicklungsstufe doch deutlich über dem Ergebnis liegt.
Aber welches Ergebnis auch immer so eine Auswertung liefert, es ist nur ein Feedback. Natürlich ist der Umgang damit stark von der Entwicklungsstufe und den vielen weiteren Persönlichkeitsaspekten abhängig. In jedem Fall kann das Feedback genutzt werden, um die eigene Entfaltung zu unterstützen. Und mit Entfaltung meine ich, mehr bei mir anzukommen, mehr mit mir und der Welt in Frieden zu kommen, wirklich anzunehmen, was ist, zufriedener oder gar glücklicher zu werden, erfüllendere Beziehungen zu leben, freudvoller und erfüllender zu arbeiten, gesünder zu leben. „Mich nicht mehr als den Riesen meiner Träume und nicht mehr als den Zwerg meiner Ängste sehen.“ wie Richard Beavauis so schön schrieb.
Die Reduktion eines Menschen auf „seine“ Entwicklungsstufe im Sinne des Center of Gravity und der daraus nicht unüblichen Ableitung von Fähigkeiten und Grenzen greift aber selbst nach einem Scoring zu kurz...und ohne das ist es eh mindestens mutig, wenn nicht irgendwo zwischen naiv und grob fahrlässig, eine Ich-Entwicklungsstufe von jemandem einzuschätzen, denn nach integralen Quadranten schauen wir am ehesten auf den einzigartigen Links oben–Quadranten in der Strukturzone.
Es greift aber vor allem zu kurz, weil wir Menschen nicht nur eine Stufe haben. Auch wenn wir vielleicht von einer Stufe aus unseren Erfahrungen und unserem Leben häufig eine Bedeutung geben, ist diese Stufe ja nicht einfach so in unseren Handlungen sichtbar und unsere Handlungen auch nicht immer von dieser Stufe aus gesteuert. Gerade für späte Stufen gilt der freie Fluss der verschiedenen Perspektiven und die Ausnutzung des ganzen Bewusstseinsraums als ein Merkmal von Gesundheit. Und in Abhängigkeit von Themen, mit denen wir konfrontiert sind, werden auch sehr unterschiedliche Perspektiven in uns aktiviert.
Gehen wir einmal von der Metapher aus, dass in uns beliebig viele Anteile vorhanden sind. Jeder Anteil findet sich auch in Körperstrukturen, wie beispielsweise neuronalen Verbindungen im Gehirn, Faszienverklebungen, Körperhaltungen und dergleichen mehr wieder, weil wir in unserem Leben verschiedene Erfahrungen gemacht haben und diese alle in uns irgendwie gespeichert sind. Wenn wir uns auf die Idee einlassen, dass jede dieser Erfahrungen zu einem Denk-Fühl-Körper-Prozess, sozusagen einem Anteil oder Ich-Zustand zusammengefasst werden kann, dann hat jeder dieser Anteile eine Entwicklungsstufe, ein Center of Gravity, ein spezifisches Muster von Verarbeitungslogiken.
Wenn wir so die Perspektive der Entwicklungsstufen als einen dynamischen Prozess und Ausdruck eines fließenden Lebens sehen, dann stellen sich doch ganz andere Fragen für die eigene und fremde Erkundung:
Einige dieser Fragen sind massiv vertikal entwicklungsförderlich, andere führen in die Breite oder die Flexibilisierung. Ganz abhängig davon, wie das einzigartige Sein eben ist.
Kein Modell kann dir sagen, wer du bist.
Und wenn dir ein Modell hilft, dich und deinen Mitmenschen mit mehr Liebe und Tiefe zu begegnen, dann ist das wunderbar.
Aber wenn sich das Modell zwischen euch stellt, der Kontakt und die Bindung verloren gehen, Bewertung statt Schauen, Staunen und Erfreuen an der Andersartigkeit entsteht…, ist es vielleicht an der Zeit, das Modell zu verlernen.
Vielleicht die wichtigsten Erkundungsfragen für Modell-affine Menschen wie mich:
Interesse an einer objektivierte Entwicklungseinschätzung mit STAGES. Dann findest Du hier mehr dazu.