

Auch wenn die Forschung zu vertikaler Entwicklung seit den 1950er Jahren intensiv betrieben wird, ist sie bis heute ein weitgehend übersehener Aspekt menschlicher Entwicklung. Wer von Persönlichkeitsentwicklung spricht, meint oft horizontales Lernen: neue Fähigkeiten, mehr Wissen, andere Gewohnheiten. Doch Entwicklung verläuft nicht nur breiter, sondern auch tiefer oder besser: später
Vertikale Entwicklung beschreibt unser Wachstum in Stufen des Bewusstseins. Diese Stufen beeinflussen, wie wir denken, fühlen, handeln. Wie wir führen. Wie wir Beziehungen gestalten. Wie wir mit Komplexität, Widersprüchen und Unsicherheit umgehen. Die Entwicklungsstufe, in der wir vorrangig „unterwegs“ sind, bestimmt das nicht vollständig, aber sie setzt den Rahmen. Sie begrenzt, formt und strukturiert unsere Wahrnehmung und unsere Möglichkeiten.
Wirklich relevant wird das, wenn wir uns bewusst machen, was wir wahrnehmen können, wie wir uns selbst und die Welt sehen und welche Perspektiven wir überhaupt einnehmen können. Zu erkennen, auf welcher Stufe wir stehen, kann sehr ernüchternd sein. Und gleichzeitig ungeheuer kraftvoll. Weil wir beginnen, unser eigenes Wahrnehmen zu reflektieren und plötzlich eine neue Tiefenschärfe ins eigene Leben kommt.
Die Forschung zeigt: Viele Menschen denken, sie hätten bereits einen hohen Reifegrad erreicht. Gleichzeitig erwarten sie kaum mehr Entwicklung in der Zukunft. Ein Trugschluss. Wenn wir erkennen, wo wir stehen, kann sich ein neues Potenzial für die eigene Entwicklung erschließen, aber auch für das, was wir als Kollektiv gestalten können.
In meiner Arbeit nutze ich das STAGES-Modell, ein differenziertes Modell zur Beschreibung der Ich-Entwicklung. Es beginnt mit dem Säuglingsalter und beschreibt insgesamt zwölf Stufen, die sich bis ins fortgeschrittene Erwachsenenalter hinein weiterentwickeln.
Jede Stufe beschreibt ein konsistentes System der Sinngebung: Wie interpretieren wir Erfahrungen? Wie reagieren wir emotional? Was halten wir für real, richtig, möglich?
Häufig bekannt ist die Arbeit von Jean Piaget zur kindlichen Entwicklung, mit Stufen wie sensomotorisch, präoperational oder formal-operational. STAGES setzt hier an und entwickelt diese Tradition weiter, über die Kindheit hinaus bis ins spätere Erwachsenenalter. Grundlage ist die Forschungsarbeit von Loevinger, Cook-Greuter, Terri O’Fallon und Kim Barta.
STAGES unterscheidet nicht nur zwölf Entwicklungsstufen, sondern auch sechs Personenperspektiven. Von der ersten Person eines Säuglings, über die dritte Person eines Erwachsenen, bis hin zur sechsten Person einer meta-bewussten Ich-Instanz.
Entwicklung ist der natürliche Rhythmus unseres Lebens. In jedem Moment entfaltet sich in uns das Potenzial zu tieferem Verstehen, zu reicheren Perspektiven, zu lebendigeren Beziehungen.
Was wir vertikale Entwicklung nennen, ist dieser faszinierende Weg des Wachstums: ein Weg, der uns Schicht um Schicht zu einem umfassenderen Verständnis führt. Von uns selbst. Von anderen. Von der Welt.
Jede neue Perspektive, die wir gewinnen, erweitert nicht nur unseren Horizont. Sie vertieft auch unsere Fähigkeit, präsent zu sein, zuzuhören, zu verstehen.
Kern jeder Entwicklung ist die Verschiebung von Subjekt zu Objekt. Was gestern noch Teil meiner Identität war, kann heute von mir betrachtet werden. Ich bin nicht mehr meine Beziehung. Ich habe eine Beziehung. Ich bin nicht mehr mein Gefühl. Ich erkenne es und kann mich dazu verhalten.
Ein Beispiel: Manche Menschen sind ihre Beziehungen, sie sind ihnen unterworfen, re-agieren automatisch. Andere können eine Beziehung zu ihrer Beziehung haben. Das macht den Unterschied zwischen „Ich bin wütend“ und „Ich nehme meine Wut wahr und kann mit ihr umgehen“.
Das gleiche gilt für Gedanken, Gefühle, Selbstbilder, Werte und letztlich für das Bewusstsein selbst. Die Entwicklung führt zu einem „Bewusstsein über das Bewusstsein“. Nicht abstrakt, sondern ganz konkret im Erleben.
Drei Bedingungen echter vertikaler Entwicklung
Nicht jede Veränderung ist vertikale Entwicklung. Drei Bedingungen müssen erfüllt sein:
Fazit: Entwicklung als Bewusstseinsarbeit
Vertikale Entwicklung ist kein Coachingziel. Keine Methode. Kein Hack.
Sie ist ein Prozess der Reifung: langsam, nicht linear, oft irritierend. Aber auch klärend, entlastend, stärkend. Weil sie hilft, sich selbst anders zu sehen. Und weil sie ermöglicht, Komplexität nicht nur zu ertragen, sondern zu gestalten.
Falls Du mehr dazu erfahren möchtest, hier für Dich ein kostenfreier Mini-Kurs zur vertikalen Entwicklung
